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DIE PROBEBÜHNE DES NORMALEN LEBENS

Claudia Mäder (Autorin Feuilleton / Neue Zürcher Zeitung)

ln einem seiner Essays berichtet der französische Autor Michel Houellebecq von einer merkwürdigen Praxis: ln einem Dorf in Südfrankreich sind pensionierte Männer von der Gemeinde beauftragt worden, regelmässig Petanque zu spielen, Pastis zu trinken und auf dem Dorfplatz herumzusitzen. Die Gemeinde hat ihnen sogar Geld dafür gegeben, allerdings mussten die alten Männer im Gegenzug zu fixen Zeiten zum Pastis greifen. Nämlich immer dann, wenn die Busse eines Reiseveranstalters durchs Dorf fuhren und eine kurze Pause einlegten: Die Pensionäre hatten den Auftrag, den Touristen einen authentischen Eindruck vom Leben in der Provence zu vermitteln.

Auf den ersten Blick könnte diese Anekdote nicht weiter entfernt sein von dem, was Susanne Regina Meures in ihrem Film GIRL GANG zeigt. Anstatt um alte Mönner in einem verschlafenen Dorf geht es hier um eine junge Frau, die in Berlin und in den sozialen Netzwerken lebt. Doch im Prinzip steht man in der Provence und in der Berliner Netzwelt vor ein und demselben Phänomen: vor Menschen, die anderen Menschen ein authentisches Leben vorspielen.

 

Natürlich trinkt Leonie, die jugendliche Protagonistin, keinen Pastis. Sie macht Hausaufgaben, schleckt Eiscreme, entfernt sich die Schminke und probiert neue Schuhe an. Und während sich die provenzalischen Pensionäre auf dem Dorfplatz zeigen, ist Leonie nur in der virtuellen Welt anzutreffen. Aber genauso, wie die Touristen denken, dass sie den normalen Alltag der alten Männer beobachten, glauben die Fans des Teenagers, dass sie ihrem Idol direkt ins Leben blicken.

 

Dieses Leben sei perfekt, sagen die Fan-Mädchen bewundernd, und wünschen sich, so gut gelaunt wie Leonie in Chicken Nuggets zu beissen oder eine neue Abschminkquaste zu testen. Die Kamera, mit der Leonie sich filmt, ist aus Sicht ihrer Fans ein Spiegel des Lebens: Er hängt über der jungen Frau, vor, neben oder hinter ihr und zeigt immer das, was sie gerade tut und sagt; er gibt Einblick in alles, was sie rund um die Uhr erlebt.

 

Die Kamera, mit der Susanne Regina Meures die junge Leonie filmt, zerbricht diesen Spiegel oder jedenfalls die Vorstellung, dass Leonies Handykamera wie ein Spiegel funktioniere: Anderthalb Stunden lang können die Zuschauer im Dokumentarfilm verfolgen, wie hart die Jugendliche daran arbeitet, ihr normales Leben als solches zu inszenieren.

 

Hierin unterscheidet sich die junge Influencerin aus Berlin von den alten Männern in der Provence. Diese müssen nicht sehr viel machen, um ihre Aufgabe zu erfüllen und echt provenzalisch rüberzukommen. Allerdings sind auch ihre Gehälter ziemlich bescheiden. lm lnfluencer-Business dagegen ist richtig viel Geld zu verdienen - unter der Bedingung, dass der Mensch, der seinen Fans die diversen Produkte vorführt, in seinen Werbefilmen auch richtig authentisch wirkt. Diese Wirkung aber ist nur mit erheblichem Auf- wand zu erzielen.

 

«Du musst authentischer werden, Du musst an Dir arbeiten», sagt ein Social-Media-Manager zur jungen Leonie und fügt an: «Theater will keiner sehen.» Das ist ein bühnenreifer Satz. Denn das größte Theater wird offensichtlich rund um die Authentizität veranstaltet: Sie muss unter großen Anstrengungen eingeübt werden, und Meures' Film lässt einen gewissermassen auf die Probebühne blicken.

 

Wir sehen und hören, wie an Sätzen gefeilt wird, bis sie wirklich nach Leonie klingen, wir verfolgen, wie der Wind das perfekte Setting stört, wie der Einsatz von passender Musik besprochen wird, und wie Leonie und ihre Eltern filmen und zanken, schneiden, timen, bearbeiten und organisieren.

 

Durch die zerbrochene Illusion des Spiegels tritt man somit in ein verstörendes Kabinett voller Vorspiegelungen. Wir sehen einen Dokumentarfilm: Einen Film, der die Realität eines Lebens festhält. Doch die Realität dieses Lebens besteht zu einem Gutteil darin, eine Lebensrealität zu inszenieren, zu spielen und zu produzieren - und dieses Kunstprodukt einem Millionenpublikum als Einblick in den Alltag zu verkaufen. Was ist echt, und was ist Spiel, was ist Rolle, was Leben, was ist Arbeit, und was ist Freizeit? lm Theater der Authentizität verschwimmen all diese Dinge, nichts ist mehr zu unterscheiden.

 

Die vielleicht größte Frage aber, die sich mit Blick auf das große Theater stellt, ist jene nach der Freiheit: lnwiefern wählt die Protagonistin ihre Rolle, die sich mit jedem Video weiter festigt, Auftrag um Auftrag nach sich zieht und die Agenda des Teenagers über den Rand des Erträglichen hinaus füllt? Es ist diese Frage, jene nach der Freiheit des lndividuums, die den Film mit den früheren Arbeiten von Susanne Regina Meures verbindet.

 

Auf den ersten Blick scheint GIRL GANG mit Meures' letzten Filmen so wenig zu tun zu haben wie die alten Petanque-Spieler mit der jungen lnfluencerin. Während RAVING IRAN vom Ausbruch zweier DJ aus dem Gottesstaat handelte und SAUDI RUNAWAY die Flucht einer Frau aus Saudi-Arabien dokumentierte, spielt

 

GIRL GANG im liberalen Westen. Doch in allen Filmen geht es im Kern um junge Menschen und deren Chancen auf ein 8 selbstbestimmtes Leben.

 

Dabei bewegen sich die Protagonisten in eine gegenläufige Richtung, und gerade dies kann einen nachdenklich machen. Die iranischen DJ und Muna aus Saudi- Arabien sind nicht bereit, die Rollen zu übernehmen, in die sie von ihren repressiven Staaten gezwungen werden. Meures' Filme zeigen, wie diese Menschen danach streben, ihre Leben fernab von bevormundenden Kontrollinstanzen selber zu gestalten. Der jungen lnfluencerin dagegen schaut man zu, wie sie in einem Land, das ihr die denkbar größte Freiheit garantiert, ins immer engere Korsett ihres eigenen Rollenspiels gerät. Wo die einen mit aller Kraft um Freiheit ringen, scheint die andere sie zwischen Schminktipps und McDonald's-Promo zu verlieren.

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